Wenn das GPS des Gehirns den Geist aufgibt
Eine neue Studie über Fledermäuse zeigt eine unerwartete Darstellung des dreidimensionalen Raums im Gehirn
Nilflughund: Die Darstellung des dreidimensionalen Raums in der Hirnrinde von Säugetieren ähnelt einer Schachtel mit Murmeln. Foto: Steve Gettle; Design: Maayan Visuals
Beteiligtes Bernstein Mitglied: Gily Ginosar, Weizmann Institute of Science, Rehovot, Israel
/Weizmann/ In einer neuen Studie, die in Nature veröffentlicht wurde, haben Forscher des Weizmann Institute of Science in Zusammenarbeit mit Kollegen der Hebräischen Universität Jerusalem zum ersten Mal enthüllt, wie der dreidimensionale Raum in der Hirnrinde von Säugetieren durch das “GPS”-System des Gehirns dargestellt wird. Das Forscherteam unter der Leitung von Prof. Nachum Ulanovsky von der Abteilung für Neurobiologie der Weizmann Universität war überrascht, dass sich diese Repräsentation stark von der Darstellung des zweidimensionalen Raums unterscheidet, wodurch mehrere seit langem bestehende Hypothesen auf den Kopf gestellt wurden.
Säugetiere, darunter auch der Mensch, kennen ihre Position im Raum dank mehrerer Arten spezialisierter Neuronen im Hippocampus und dem benachbarten entorhinalen Kortex – Regionen, die tief im Gehirn liegen. Kopfrichtungszellen, die inneren Kompasse des Gehirns, zeigen dem Tier die Richtung an, in die es seinen Kopf dreht. Ortszellen, von denen man annimmt, dass sie eine mentale Karte der Umgebung erstellen, werden aktiviert, wenn ein Tier einen bestimmten Ort durchquert. Rasterzellen hingegen reagieren nicht auf einen, sondern auf mehrere solcher Orte, und man nimmt an, dass sie das Gehirn mit einer Art GPS-System versorgen.
Die Studie über Gitterzellen und das GPS des Gehirns wurde 2014 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Diese und andere Studien konzentrierten sich jedoch ausschließlich darauf, wie zwei Dimensionen dargestellt werden, und sagten wenig über die Darstellung des dreidimensionalen Raums aus. Um diese Lücke zu schließen, wollten Ulanovsky und Kollegen herausfinden, wie Gitterzellen bei frei agierenden Fledermäusen in drei Dimensionen funktionieren.
Bei der Untersuchung von Rasterzellen in Nagetieren, die auf zweidimensionalen Oberflächen laufen, wurde festgestellt, dass sie in mehreren kreisförmigen Bereichen, den so genannten ‘firing fields’, aktiviert werden, die in einem symmetrischen sechseckigen Muster – ähnlich wie Millimeterpapier – angeordnet sind, das die Oberfläche bedeckt. Diese beispiellose Symmetrie und Periodizität lassen vermuten, dass diese Zellen an geometrischen Raumberechnungen beteiligt sind, die den Kern des zerebralen GPS bilden. Der entorhinale Kortex, in dem sich die Gitterzellen befinden, ist das Hirnareal, das bei der Alzheimer-Krankheit als erstes betroffen ist, und es ist möglich, dass die räumliche Desorientierung, eine der frühen Erscheinungsformen der Alzheimer-Krankheit, auf eine Funktionsstörung der Gitterzellen zurückzuführen ist.
Frühere Arbeiten zeigten sowohl eine lokale als auch eine globale Ordnung bei der Darstellung des zweidimensionalen Raums, und dasselbe wurde auch für den dreidimensionalen Raum angenommen. In der neuen Studie wurde jedoch festgestellt, dass der dreidimensionale Raum kein globales Gitter aufweist, sondern eine lokale Ordnung beibehält.
Stattdessen waren die dreidimensionalen ‚firing fields‘ der Gitterzellen, die in diesem Fall als Kugeln und nicht als Kreise geformt waren, wie eine Schachtel voller Murmeln gepackt. Sie waren nicht völlig ungeordnet, aber sicherlich weniger geordnet als das dreidimensionale Äquivalent eines sechseckigen Gitters – denn die neue Anordnung erlaubte den “Murmeln” einige zusätzliche Freiheitsgrade. Während eine spürbare globale Ordnung fehlte, waren die Kugeln einer lokalen Ordnung verpflichtet, bei der der Abstand zwischen einer Kugel und ihren nächsten Nachbarn konstant blieb. Im Vergleich zu anderen gängigen Theorien war das neue theoretische Modell dasjenige, das den experimentellen Daten am meisten entsprach.
Um eine mechanistische Erklärung für dieses Phänomen lokaler statt globaler Ordnung zu finden, arbeitete das experimentelle Team – Ginosar, Las und Ulanovsky – mit den Theoretikern Dr. Johnatan Aljadeff, einem ehemaligen Postdoktoranden bei Weizmann und jetzigen Professor an der Universität von Kalifornien in San Diego, sowie Prof. Haim Sompolinsky und Prof. Yoram Burak von der Hebräischen Universität Jerusalem zusammen. Gemeinsam konstruierten sie ein Modell, das auf Prinzipien aus der statistischen Physik beruht, die die Wechselwirkung zwischen Teilchen beschreiben. Das Modell zeigte, dass die kugelförmigen ‚firing fields‘ der Gitterzellen fast genauso interagieren wie Teilchen – sie werden voneinander “angezogen”, wenn sie sich auf Distanz befinden, und “abgestoßen”, wenn sie sich zu nahe kommen. Insbesondere das Gleichgewicht der auf die Teilchen wirkenden Kräfte könnte die lokale Ordnung erklären, die die Kugeln in konstanten lokalen Abständen zueinander hält, während ein globales Gitter vermieden wird. Das neue Modell entsprach demnach den experimentellen Daten am meisten.
Während frühere Modelle eine ähnliche dreidimensionale Anordnung aus dem zweidimensionalen Gitter extrapolierten, zeigen die Arbeit von Ulanovsky und Kollegen und ihr “Murmelbox”-Modell, dass die Dinge viel komplexer sind. Da im dreidimensionalen Raum kein periodisches Gitter gebildet wird, müssen die klassischen Theorien zum Verständnis des faszinierenden Verhaltens von Gitterzellen überarbeitet werden.
>> Text nach der Originalpressemitteilung
Publikation
Ginosar, G., Aljadeff, J., Burak, Y. et al. Locally ordered representation of 3D space in the entorhinal cortex. Nature 596, 404–409 (2021). https://doi.org/10.1038/s41586-021-03783-x