Lesezentrum im Gehirn bildet einen Wortfilter
Wörter zu erkennen ist die Grundlage, um die Bedeutung eines Textes zu erfassen. Wenn wir lesen, bewegen wir unsere Augen sehr effizient und schnell von Wort zu Wort. Dieser Lesefluss wird in der Regel nur dann gestört, wenn wir einem Wort begegnen, das wir nicht kennen. Ein internationales Team von Forscher*innen der Universität Wien und der Goethe Universität Frankfurt hat nun in Experimenten mit Hilfe von funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) herausgefunden, dass die Unterscheidung von bekannten Wörtern und unbekannten Zeichenketten im Sinne eines Filterprozesses ein gutes Modell für die Hirnaktivierungsmuster ist, welche in Lesestudien beobachtet werden. Dieser Filter ist in einem für die visuelle Worterkennung wichtigen Gehirnareal, im linken unteren Schläfenlappen, verortet. Diese Ergebnisse erschienen aktuell in der Fachzeitschrift PLOS Computational Biology.
Frau liest ein Buch © pexels / Andrea Piacquadio
Beteiligtes Bernstein-Mitglied: Christian Fiebach
Schrift ist und bleibt eine wichtige Informationstechnologie”, sagt Benjamin Gagl, vormals Postdoktorand am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien und dem Institut für Psychologie an der Goethe Universität Frankfurt. Gagl untersuchte mit einem internationalen Team unter Leitung von Christian Fiebach die kognitiven und neuronalen Prozesse der Worterkennung. Schnell stellten die Forscher:innen fest, dass psychologische Theorien keine ausreichend präzisen Annahmen über die genauen Funktionen eines der am häufigsten bei Studien zur Worterkennung aktivierten Hirnareale, dem linken unteren Schläfenlappen, machen.
Wortfilter als ein Baustein für effizientes Lesen
Um diese Wissenslücke zu schließen, entwickelten Gagl und Kolleg:innen ein Modell, das etablierte Verhaltensbefunde aus der Psychologie nutzt, um die Aktivierungsstärke dieses Leseareals im Gehirn vorherzusagen. Das Modell nimmt hierbei an, dass diese Gehirnregion im Sinne eines Filters bereits bekannte Wörter von sinnlosen oder noch nicht bekannten Buchstabenfolgen trennt und nur bekannte Wörter zu nachfolgenden Prozessen der Bedeutungsverarbeitung “passieren” lässt. Unbekannten Wörtern wiederum begegnen wir oft, etwa wenn wir etwas Neues lernen. Diese erfordern eine andere Art der Verarbeitung im Gehirn.
Dieses “Lexikalische Kategorisierungsmodell” kann das Leseverhalten der Versuchsteilnehmer:innen gut beschreiben, aber auch sehr präzise Vorhersagen über Gehirnaktivierungen treffen, wie das Team von Wissenschaftler:innen um Gagl und Fiebach anhand von drei fMRT-Experimenten demonstrierte. Darüber hinaus konnten sie in einer Verhaltensstudie zeigen, dass die Leseleistung besser wird, wenn Versuchsteilnehmer:innen genau diesen Filterprozess trainieren. So konnten die Forscher:innen einen bis jetzt nicht beschriebenen Kernprozess des Lesens identifizieren und seine genaue Lokalisation im Gehirn beschreiben.
Computermodelle als Baustein für eine exakte Gehirnforschung
Für ihre Studie kombinierten die Forscher:innen um Gagl und Fiebach Methoden aus der Gehirnforschung und der Computermodellierung. Diese Kombination erlaubte erstmals eine präzise Vorhersage von Aktivierungsmustern im linken Schläfenlappen unseres Gehirns während der Worterkennung. Zentrale Rolle in dieser Studie spielt hierbei, dass in drei Studien mittels fMRT gezeigt werden konnte, dass die Aktivierung in genau dieser Region im linken Schläfenlappen von dem Modell vorhergesagt wurde.
Neue Möglichkeiten zur Kompensation von Leseschwächen?
“Diese Ergebnisse sind ein Meilenstein für unser Verständnis von Leseprozessen”, so Fiebach. “Die exakte Modellierung von kognitiven Prozessen im menschlichen Gehirn wird es uns ermöglichen, Denk- und Wahrnehmungsprozesse wesentlich besser zu verstehen. Dies könnte neue Trainingsansätze zur Kompensation von Funktionsstörungen aufzeigen, wie etwa im Bereich der Lese- und Rechtschreibschwäche.” Gagl unterstreicht dies: “Die Kombination dieser Methoden stellt eine Brückentechnologie dar, um die Anwendung grundlagenwissenschaftlicher Erkenntnisse in pädagogischen und klinischen Settings zu forcieren.”