Neurotechnologie zur Behandlung von psychischen Störungen
Forschungsnetzwerk nutzt Big-Data-Modelle, um neuronale Netze zu verstehen
Foto: Astrid Eckert/TUM
Beteiligte Bernstein-Mitglieder: Simon Jacob, Julijana Gjorgijeva
Die Kliniker:innen und Wissenschaftler:innen des Innovation Networks “Neurotechnology in Mental Health – NEUROTECH” befinden sich auf unbekanntem Terrain. “In vielen medizinischen Bereichen hat der technologische Fortschritt den Patient:innen viele Vorteile gebracht, in den Hirnwissenschaften ist dies jedoch nicht so sehr der Fall. Deshalb ist das unsere Herausforderung”, sagt Simon Jacob, Professor für Translationale Neurotechnologie und Koordinator des Forschungsnetzwerks.
Mit Hilfe neuer Technologien und modernster computergestützter Analyse, Modellierung und KI will das Netzwerk Aktivitätsmuster im Gehirn finden, die unter anderem mit kognitiven psychischen Störungen in Verbindung stehen. Diese Ergebnisse sollen dann dazu beitragen, die Behandlungsmöglichkeiten für Schlaganfallpatient:innen mit kognitiven Einbußen oder Menschen, die an Depressionen oder chronischen Schmerzen leiden, zu verbessern.
Ein Problem vereinigt viele Disziplinen
Die Forscher:innen haben ein einzigartiges interdisziplinäres wissenschaftliches Umfeld geschaffen, das mehrere Aspekte des Problems abdeckt. Dies ist charakteristisch für die neuen TUM Innovation Networks. Sie bringen transdisziplinäre Teams zusammen, die ihre kollektive Kreativität und wissenschaftliche Expertise einsetzen, um an der Schnittstelle traditioneller Disziplinen Innovationsfelder mit hohem Potenzial zu bilden.
“Wenn wir die Probleme und Bedürfnisse der Arbeit mit Patient:innen kennen, können wir Methoden entwickeln, die in den Klinikalltag passen.”
Simon Jacob, Professor für Translationale Neurotechnologie
Ein wichtiger Punkt von „NEUROTECH“ war es, Kliniker:innen mit Fachwissen in Psychiatrie und Neurologie mit Datenwissenschaftler:innen, Expert:innen für Computermodellierung und Ingenieur:innen zusammenzubringen. “Wir kennen die Probleme und Bedürfnisse in der Arbeit mit Patient:innen und können daher Methoden entwickeln, die in den Klinikalltag passen”, sagt Jacob. Darüber hinaus sind kognitive Neurowissenschaftler:innen und Spezialist:innen aus den Bereichen Ethik und Forschungspolitik aktive Mitglieder des Teams.
Gehirnimplantate zum Verständnis der kognitiven Mechanismen
Jacob und sein Team setzen Hirnimplantate ein, um die Entwicklung und Störung von Kognition in neuronalen Netzwerken zu erforschen. Da die Sprache eine zentrale kognitive Funktion des Menschen ist und häufig durch Schlaganfälle stark beeinträchtigt wird, hat sich das Team entschieden, mit diesem Thema zu beginnen. Die Implantate bestehen aus kleinen Sensoren, die in spezielle Hirnregionen von Schlaganfallpatient:inneneingesetzt werden, die Probleme mit der Produktion und dem Verständnis von Sprache haben. Diese Implantate sind in der Lage, die Aktivität von Populationen einzelner Neuronen präzise aufzuzeichnen, während die Patient:innen definierte sprachliche Aufgaben lösen.
Das internationale Team, dem Expert:innen aus Italien, Frankreich, der Türkei, Indien und China angehören, hat bereits einen wichtigen klinischen Meilenstein erreicht: Die erste Implantation war erfolgreich, und das Gerät sammelt Daten von hoher Qualität.
Big Data und KI
Doch welche Art von Information verbirgt sich in diesen riesigen Datenmengen? Die mazedonische Wissenschaftlerin Julijana Gjorgijeva, Professorin für Computational Neurosciences, ist die Expertin für computergestützte Modellierung im Team. Sie kam 2016 mit dem MaxPlanck@TUM-Karriereprogramm an die TUM und ist nun associate Professorin. Eine ihrer Aufgaben ist es, in den neuronalen Ableitungen Muster zu finden, die mit Sprach(un)fähigkeiten korrelieren. Auf dieser Grundlage kann sie Modelle für größere neuronale Netze sowie für andere kognitive Funktionen erstellen.
Gjorgjieva und ihr Team verwenden das Konzept der “recurrent neural networks”. Diese Computermodelle können das Verhalten echter Neuronen und die Verbindungen zwischen ihnen simulieren, während sie die Netzwerke bilden. “Sie ermöglichen es uns, die Verbindungen in den Netzwerkmodellen zu verändern und ein- oder auszuschalten, wie bei den Gehirnverletzungen von Schlaganfallpatient:innen”, sagt sie. Indem sie diese Modelle anhand der aufgezeichneten neuronalen Daten und des kognitiven Verhaltens der Patient:innen trainieren, können sie umfassendere Konzepte darüber formulieren, was ein gesundes oder geschädigtes Gehirn tut.
Auf der Suche nach Biomarkern für chronische Schmerzen und Depressionen
In anderen Netzwerkprojekten werden Hirndaten mit Hilfe der Elektroenzephalographie (EEG) gesammelt. Beim EEG tragen die Patient:innen eine Kappe mit Elektroden, die die neuronalen Aktivitäten auf der Hautoberfläche messen. Diese Methode kann keine einzelnen Neuronen auflösen, hat aber den Vorteil, dass sie eine sehr gute räumliche Abdeckung des Gehirns bietet.
Das Forschungsteam hat bereits EEG-Daten von Hunderten von Patient:innen gesammelt, die unter chronischen Schmerzen leiden. Mit Hilfe von Methoden des maschinellen Lernens und anderen KI-Ansätzen versuchen sie nun, charakteristische Gehirnmuster für Schmerzen zu finden, die als Biomarker verwendet werden können, um die Diagnose zu verbessern und das Ansprechen auf Therapien vorherzusagen. Diese Ergebnisse und Techniken sollen in den nächsten Schritten auf Patient:innen mit Depressionen übertragen werden.
Psychische Störungen stellen weltweit eine zunehmende Belastung dar, und das „NEUROTECH“-Team hat die Herausforderung angenommen, modernste neurotechnologische Instrumente zu entwickeln, um diesen Patient:innen zu helfen.
Aus dem Englischen übersetzt von Alexander Lammers/Bernstein Network Computational Neuroscience.