Funktion folgt Form in neuronalen Netzwerken
Informationsübertragung im Gehirn beruht auf der Aktivierung neuronaler Verarbeitungspfade, die in hochgradig rekurrente Netzwerke eingebettet sind. Im Zuge eines solchen Verarbeitungsprozesses sollte neuronale Aktivität weder abklingen noch sich unkontrolliert ausbreiten und kontextuell irrelevante Regionen des Netzwerkes rekrutieren. Beides hätte einen Informationsverlust zur Folge. Basierend auf solchen Überlegungen wird daher vermutet, dass das Gehirn nahe eines kritischen Phasenübergangs zwischen abklingender und überschießender Erregungsausbreitung operieren müsse.
Smoothed array of avalanche size distributions for in vitro networks with degrees of functional modularity increasing from left to right. Foto: Ulrich Egert
Beteiligte Bernstein Mitglieder: Ulrich Egert
Betrachtet man eine neuronale Aktivitätskaskade als einen Verzweigungsprozess, müssten dann einzelne Neurone im Mittel immer genau ein weiteres Neuron aktivieren. Die Aktivitätsausbreitung und Rekrutierungsdynamik wird oft als „Neuronal Avalanche“, analog einer Lawine, bezeichnet. Es bleibt bisher jedoch weitestgehend ungeklärt, wie Nervenzellen die Übertragungsstärke ihrer Verbindungen, den Synapsen, regulieren könnten, um eine kritische Erregungsausbreitung herzustellen und aufrechtzuerhalten. Da geringfügige Unausgewogenheiten sofort ein Abdriften in sogenannte unter- bzw. überkritische Dynamiken nach sich ziehen, scheint dies angesichts der kontinuierlichen, erfahrungsabhängigen Veränderung neuronaler Verbindungen fast unmöglich.
Tatsächlich deuten hochkorrelierte Aktivierungsmuster innerhalb lokaler Nervenzellpopulationen in in-vivo und in-vitro sogar darauf hin, dass diese lokalen Schaltkreise überkritische, expansive Aktivitätsdynamik ausbilden. Lässt sich dieser Widerspruch aufzulösen? Computersimulationen sagen voraus, dass modulare Netzwerke mit einer Mischung aus regional unterkritischer und überkritischer Dynamik eine insgesamt scheinbar kritische Dynamik erzeugen können. Die Begrenzung expansiver Erregungsausbreitung auf kleinere Module macht die Netzwerke dabei zusätzlich insgesamt robuster gegen unkontrollierte Aktivitätsausbrüche. Dadurch entstehen mehr Konfigurationsmöglichkeiten für Konnektivität mit stabiler Aktivitätsausbreitung.
Die neue Studie, die im Journal of Neuroscience veröffentlicht wurde, liefert nun einen experimentellen Beleg für diese Vorhersage. Durch die Manipulation der Selbstorganisation in Netzwerken kortikaler Nervenzellen in Zellkulturen untersuchten Okujeni und Egert, wie die räumliche Aggregation von Nervenzellen in sogenannten „Clustern“ die neuronale Erregungsausbreitung beeinflusst. Sie zeigen, dass im Einklang mit homöostatischer Wachstumsregulation bei zunehmendem neuronalen Clustern “Fernverbindungen“ über Cluster hinweg durch “Nahverbindungen“ innerhalb von Clustern ersetzt werden. Die dadurch zunehmende Modularität wird von einem allmählichen Übergang von über- zu unterkritischer Erregungsausbreitung begleitet. Dies erzeugt sozusagen einen größeren Konfigurationskorridor für stabile, kritische Erregungsausbreitung in modularen Netzwerken und erweitert die Möglichkeiten der Selbstorganisation neuronaler Netze.