Sofja Kovalevskaja Preis 2017 für Anna Levina
Anna Levina, Mitglied des Bernstein Center for Computational Neuroscience Tübingen, erhielt den Sofja Kovalevskaja Preis 2017, einen der höchst dotierten Forschungspreise Deutschlands.
Anna Levina
/BN, C. Duppé/
Hallo Anna, herzlichen Glückwunsch! Sie wurden kürzlich mit dem Sofja Kovalevskaja-Preis ausgezeichnet. Was bedeutet diese Auszeichnung für Sie persönlich und beruflich?
Danke sehr! Mir persönlich eröffnet es die Möglichkeit, mich auf langfristige Forschungsthemen zu konzentrieren, oder einfacher gesagt “an etwas dran zu bleiben”. Es bedeutet auch, dass ich in der Wissenschaft bleiben kann.
Abgesehen von diesen persönlichen Gründen fühle ich mich geehrt, diese besondere Auszeichnung zu erhalten, denn die Namensgeberin, Sofja Kovalevskaja, eine russische Mathematikerin wie ich, war eine sehr faszinierende Frau und ein Vorbild für Wissenschaftlerinnen. Ich habe erst kürzlich die Kurzgeschichte über sie gelesen, die von der Nobelpreisträgerin Alice Munro geschrieben wurde. Seither denke ich immer wieder, wie viel einfacher das Leben einer Wissenschaftlerin geworden ist. Und wie viel mehr Glück ich habe als Kovalevskaja zu ihrer Zeit.
Wie würden Sie das große Ziel Ihrer Forschung beschreiben?
Ich möchte die Prinzipien verstehen, die die (Selbst-)Organisation des Gehirns leiten. Einerseits versuche ich zu verstehen, wie komplexes Verhalten aus dem simplen Zusammenspiel einfacher Einheiten, wie Synapsen, entsteht; andererseits versuche ich zu beantworten, warum neuronale Aktivität bestimmte Muster aufweist. Ich entwickele meine Hypothesen aus dem Studium einfacher, analytisch behandelbarer Modelle und versuche dann, meine Modellergebnisse mit aufgezeichneten Datensätzen zu belegen.
Aber das Gehirn ist nicht so organisiert wie ein Computer, oder? Wie lässt sich die Komplexität des menschlichen Organs in die Mathematik übersetzen?
Ja und nein. Als Wissenschaftler versuchen wir das Gehirn zu verstehen. Die Gesetze der Physik waren auch erst geheimnisvoll, bevor wir sie formulieren konnten. Natürlich unterscheiden sich die Gesetze, die die Entwicklung und die Funktionsweise des Gehirns regeln, von einfachen physikalischen Gesetzen, aber ich glaube auch, dass viele tierische Gehirne durch die Evolution optimiert wurden, da nur jene Organismen überleben konnten, die sich am besten anpassten.
Können Sie uns etwas mehr über Ihre Forschung erzählen?
Ich bin fasziniert von sogenannten neuronalen Lawinen, die als Zeichen der Kritikalität im Gehirn gesehen werden können. Um es einfach zu sagen, jedes ankommende Signal löst oft nur eine winzige Reaktion aus, aber manchmal kann es auch zu einer großen Salve führen, die das ganze System erfasst. Wir sprechen von “kritischen Lawinen”, wenn die Verteilung der Reaktionen einem Potenzgesetz folgt. Dies wiederum deutet darauf hin, dass sich ein System an der Grenze zwischen Übererregung und Ruhe befindet. Dieses Grenzverhalten wurde in vielen verschiedenen Modellen gezeigt, um optimale Berechnungseigenschaften wie optimale Informationsspeicherung und -übertragung oder den optimalen Wertebereich zu erreichen. Daher gehen wir davon aus, dass die Nähe zum kritischen Zustand für das Gehirn von Vorteil ist.
Kritikalität zu definieren und sie aus den Daten abzuleiten ist nicht einfach. Zum einen gibt es derzeit keine gängige, einheitliche mathematische Methode, die Kritikalität für neuronale Lawinen zu definieren, weshalb ich in den nächsten Jahren verschiedene Definitionen zusammenführen will. Andererseits basiert unsere Beurteilung der Kritikalität auf der Beobachtung sehr kleiner Teile des Systems. Bei unseren Untersuchungen arbeiten wir in der Größenordnung von Hunderten von Neuronen, nur ein Bruchteil der Milliarden, die sich im Gehirn befinden. Daher ist es wichtig herauszufinden, welche Auswirkungen eine solche Teilprobe haben kann und wie diese systematisch zu berücksichtigen sind. Dies ist eine Fragestellung, an der ich gemeinsam mit meiner Kollegin Viola Priesemann arbeite, die am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation und am BCCN Göttingen forscht.
Welche Herausforderungen oder Hindernisse sehen Sie für Ihre Forschung? Oder positiver gefragt, welche Entwicklungen sind für Sie vielversprechend?
Eigentlich denke ich, dass die Verfügbarkeit von Daten alle drei der von Ihnen genannten Punkte abdeckt. Sie birgt Chance und Herausforderung zugleich. In letzter Zeit wurden große Fortschritte bei der Erfassung der neuronalen Aktivität erzielt, so dass der Bedarf an theoretischem Verständnis nach wie vor hoch ist. Um die Modelle verständlich zu halten, müssen wir sie einfach machen, und es ist sehr schwer, etwas zu finden, das zu all den Dingen passt, die wir derzeit aufnehmen können. Es ist ein ähnliches Dilemma wie es Jorge Luis Borges in seiner Kurzgeschichte über Kartographen in “Exactitude in Science” beschreibt.
Wo sehen Sie die Überschneidungen zu anderen Disziplinen?
Ich hoffe, dass das Verständnis über die Funktionsweise des Gehirns einen Einfluss auf moderne maschinelle Lernmethoden haben wird. Ich kann mir gut vorstellen, dass einige der Prinzipien, die zur optimalen Informationsverarbeitung im Gehirn führen, zum Verständnis und zur Verbesserung tiefer neuronaler Netzwerke beitragen können. Andererseits hegen wir immer die Hoffnung, dass neuronale Erkrankungen heilbar werden sobald wir besser verstehen wie das Gehirn funktioniert; aber im Moment beschäftige ich mich mehr mit dem rechnerischen Aspekt und den mathematischen Herausforderungen.
Mathematik ist also der Boden, auf dem Ihre Forschung wächst, würden Sie das so sehen?
Ich bin mir nicht sicher, ob es Mathematik ist, vielleicht Physik? Wissenschaft ist großartig, egal von welchem Fach wir sprechen, einfach weil man nie aufhört zu lernen und sich zu entwickeln. Deshalb hoffe ich immer Grenzen zu überwinden, wenn ich mich in andere Fachrichtungen vorwage. Ich glaube deshalb bin ich auch so froh in der Computational Neuroscience und hier gerade am Bernstein Zentrum Tübingen mit Matthias Bethge zu arbeiten; es ist einfach eine vielseitige Wissenschaft. Aber Sie haben schon recht, Mathematik habe ich studiert und ich mag die Schönheit mathematischer Modelle wenn sich die Dinge fügen.
Würden Sie uns einen Einblick geben, wie Sie die Herausforderung meistern, Familie und Spitzenforschung unter einen Hut zu bekommen?
Ich wusste immer, dass ich Kinder haben wollte. Ich bekam meinen ersten Sohn relativ früh und dachte damit sei meine wissenschaftliche Karriere beendet aber das hat meine wissenschaftliche Leidenschaft nicht gebrochen. Ich glaube, die Situation in Deutschland hat sich auch in den letzten acht Jahren verändert: Kindertagesstätten nehmen inzwischen Kleinkinder auf, das Bewusstsein für familiäre Bedürfnisse nimmt zu und es gibt viele neue Initiativen für Frauen. Ich bin optimistisch, dass meine Studentinnen es leichter haben werden als ich. Die Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben ist und bleibt jedoch eine Herausforderung.
Mein Mann ist auch Wissenschaftler und unterstützt mich. Wir teilen uns die Pflichten (und den Spaß) gleichmäßig; auch meine Schwiegereltern unterstützen uns wann immer sie können.
Welche Wege wird Ihre Forschung in Zukunft gehen? Was werden Sie mit dem Preisgeld machen? Wie wird der Preis die nächsten Jahre für Sie als Wissenschaftlerin gestalten?
Ich werde Doktoranden einstellen, Postdocs suchen und mein internationales Netzwerk erweitern; schließlich ist das Geld nicht für mich persönlich, sondern für mein Forschungsprojekt, in dem ich versuche, eine einheitliche Herangehensweise an Kritikalität zu definieren und erforsche ob und wie sie auf das Gehirn anwendbar ist. Ich habe nun fünf Jahre Unabhängigkeit vor mir; natürlich gibt es hier einen gewissen Druck, diese Chance „nicht zu vermasseln” aber ich freue mich auch sehr auf das, was kommt.
Wie hätten Sie über den Gewinn des Preises getwittert?
Ich bin eigentlich eine eher zurückhaltende Person, was das angeht; ich würde jemand anderen darüber twittern lassen, wie das Bernstein Netzwerk zum Beispiel. Ihr habt doch getwittert, oder?
Ja, das haben wir (@BernsteinNeuro). Danke Anna, dass Sie sich die Zeit für dieses Interview genommen haben.