Ihr Ziel: den neuronalen Code knacken!
Tatjana Tchumatchenko vergleicht die moderne Hirnforschung mit der Astronomie zu Einsteins Zeiten. Ihr großes Ziel ist es, den neuronalen Code zu knacken.
Tatjana Tchumatchenko, © Max-Planck-Institut für Hirnforschung / Jürgen Lecher
/BN, C. Duppé/ Anfang des 20. Jahrhunderts kam viel wissenschaftliche Bewegung in die Astronomie, die es ermöglichte, beobachtete Phänomene miteinander in Bezug zu setzen und mit mathematischen Theorien zu erklären. An einer solchen Schwelle sieht Tatjana Tchumatchenko die Hirnforschung im 21. Jahrhundert. Ihr langfristiges Forschungsziel ist es, eine mathematische Theorie für die neuronalen Netzwerke im Gehirn aufzustellen. Nach ihrer Meinung sind wir heute „näher dran als je zuvor, diesen Menschheitstraum wahr werden zu lassen.“
Als Grundlagenforscherin ist Tchumatchenko eine Wissenschaflerin der leisen Töne. Sie bleibt gerne sachlich; der Boden der mathematischen Tatsachen ist und bleibt Dreh- und Angelpunkt ihrer Forschung. Mit 32 Jahren wurde die Physikerin Gruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt a. M. Drei Jahre später erhielt sie den Heinz Maier-Leibnitz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. In der Laudatio wurden ihre Arbeiten vor allem wegen der „hohen Originalität und Kreativität sowie der großen mathematischen Tiefe und Breite der verwendeten Methoden“[1] gepriesen. Zudem waren sie laut der Jury „inhaltlich und stilistisch ein Genuss“ – ein schönes Kompliment, gerade für eine Naturwissenschaftlerin, deren feiner Sinn für Humor nicht zuletzt in der Wegbeschreibung zu ihrer Arbeitsgruppe deutlich wird: „Sobald Sie die Whiteboards mit den Formeln sehen, sind Sie bei der Arbeitsgruppe ‚Theorie der neuronalen Netzwerkdynamik‘ angekommen“, ist auf der Webseite tchumatchenko.de zu lesen.
Tchumatchenkos Interessen zeigen, dass sie immer wieder über den Tellerrand der Formeln und mathematischen Berechnungen hinausschaut und den Anwendungsaspekt bei aller Grundlagenforschung nicht aus den Augen verliert. Auch und gerade deshalb ist sie eine interessante Gesprächspartnerin, die sich des Potentials der Computational Neuroscience als inter-disziplinäre Wissenschaft sehr bewusst ist. Sie selbst beschreibt ihre Arbeit folgendermaßen: „Wir erforschen, wie Rechnungen in neuronalen Netzwerken ausgeführt werden und fragen uns wie Informationsweiterleitung, Gedächtnis oder andere Funktionen entstehen. Zum Beispiel versuchen wir zu entschlüsseln, wie die Information von Neuron zu Neuron im Gehirn fließt.“ Dass dies nicht nur eine spannende Grundlagenfrage ist, sondern zu einem allgemeinen Verständnis von Informationstransfer in biologischen ebenso wie in künstlichen neuronalen Netzwerken beiträgt, zeigt, wie überaus vielseitig Tchumatchenkos Forschung ist.
Dies hatte auch die Jury des Leibnitz Preises so gesehen. Gerade der Transfer von Tchumatchenkos Grundlagenforschung in verschiedene Anwendungsrichtungen macht sie zu einem „Vorbild für eine über klassische Fachgrenzen hinweg äußerst erfolgreich arbeitende Wissenschaftlerin.“[2] Eine ihrer Arbeiten widmet sich dem komplexen Zusammenspiel zwischen der Dynamik von Flüssigkeiten und der Schallleitungsfähigkeit der Knochen im Ohr. Ihre Berechnungen zeigen, wie die Basilarmembran, jene Membran im Ohr, die empfindlich auf Schallreize reagiert, durch zwei unterschiedliche Arten in gleichem Maße zum Schwingen gebracht werden kann. Durch Tchumatchenkos Erkenntnisse und Berechnungen wurde es möglich, Kopfhörer und Hörgeräte für schwerhörige Patienten systematisch zu optimieren.
Ein weiterer ‚Nebenschauplatz‘ ihrer Forschung war jüngst die Nutzbarkeit ihrer Algorithmen für Banken, die den Informationsfluss innerhalb von Kunden-netzwerken erfassen wollen. Eine Pariser Mathematikerin beispielsweise nutzt Tchumatchenkos Formel, um Risikoanalysen in der Finanzbranche durchzuführen. Dem Magazin Cicero erklärte Tchumatchenko hierzu in ihrer sachlichen Art, dass man einfach an gemeinsamen Fragestellungen interessiert gewesen sei.[3] So einfach kann fachübergreifendes Arbeiten manchmal sein.
Auch künstliche Intelligenz ist ein Thema, das die Physikerin sehr beschäftigt, weil sie in der Mathematik eine Art gemeinsame Sprache sieht, die Einsichten über biologische neuronale Netzwerke in konkrete Anwendungen für die künstliche Intelligenz übersetzen kann. Das Verständnis von Basisparametern steht für sie deshalb stets am Anfang einer erfolgreichen Forschung. In fachübergreifenden Kooperationen findet sie dann oft die Möglichkeiten für die Anwendung ihrer mathematischen Algorithmen. In der Zusammenarbeit mit Neurologen erstaunt sie dennoch, dass „man viel über die einzelnen beteiligten Moleküle weiß, aber wie das Netzwerk als Ganzes funktioniert, ist nicht klar.“ Gerade in der Medizin wäre solch ein Wissen von immensem Vorteil, um die Signalverbreitung im Gehirn besser simulieren zu können. Andererseits helfen solche theoretischen Simulationen auch dabei, Vorhersagen darüber zu treffen wann eine Entzündungsfront im Körper ungehindert voranschreitet und wann sie stoppt. Für Tchumatchenko sind Netzwerkmodelle deshalb eine entscheidende Basis für das Verständnis biologischer Abläufe, insbesondere natürlich des Gehirns.
Ihrem Lebenstraum, als Forscherin eine mathematische Theorie für die neuronalen Netzwerke im Gehirn aufzustellen, ist sie schon jetzt nähergekommen: „Wir können zum Beispiel den Informationsfluss von Neuron zu Neuron beschreiben. In den nächsten Jahren wollen wir diese Erkenntnisse ausbauen und hoffentlich in bessere Therapieansätze für bestimmte neurologische Krankheiten übersetzen und Fortschritte in maschinellem Lernen erzielen.“
Tchumatchenko bleibt sich und den Zahlen treu, in allem was sie tut. Die Passion für die Naturwissenschaften, insbesondere der Mathematik, hat schon früh ihr Leben geleitet; ein Leben, das sie als Kind im Alter von 13 Jahren aus der Ukraine nach Deutschland führte. Allen möglichen Bildungshürden und Vorurteilen zum Trotz wurde sie Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes. 2004 wurde sie – vielleicht auch deshalb – mit zwei anderen jungen Frauen vom Magazin Spiegel als Beispiel der ‘Generation Zuversicht’ portraitiert. Das Magazin FOKUS listete sie jüngst als eine der 25 einflussreichsten Persönlichkeiten, die unsere Zukunft gestalten – eine großartige Anerkennung für Tchumatchenkos Wissenschaft, die meist an eben jenen Whiteboards am Ende des Ganges zunächst ganz leise und unaufgeregt beginnt, um danach im Zusammenspiel mit Anderen ihre Wirkung zu entfalten.
Erschienen im Bernstein Feature. 2018. Next Gen/d/eration Computational Neuroscience, S.16-19.
Referenzen
1, 2 Deutsche Forschungsgemeinschaft. „Verleihung des Heinz-Maier-Leibnitz-Preises 2016. Laudatio auf die Preisträgerin Dr. Tatjana Tchumatchenko.“ Bonn, Mai 2016.
3 Dannenberg, Sophie. „Spikes was sonst?“. Cicero, 2017 (3): 2.