Neurobiologie: Wie Mäuse ihren Lebensraum sehen
Forscher aus München und Tübingen haben ein Open-Source-Kamerasystem entwickelt, das die natürliche Umgebung so abbildet, wie die Nagetiere sie sehen.

Die Spezialkamera deckt den relevanten Spektralbereich der Nagetiere im Grünen und Ultravioletten gut ab. © Y. Qiu, Euler Group
Beteiligtes Bernstein Mitglied: Laura Busse
/UniTü/LMU/ Die Sinne von Tieren werden durch die ökologische Nische geprägt, die sie bewohnen. Dies ist einerseits eine Herausforderung, aber auch eine Chance für die eurowissenschaftliche Erforschung von sensorischen Systemen eines Tieres. Mäuse, heute ein wichtiges Säugetiermodell in der Sehforschung, besetzen im Vergleich zum Menschen eine andere ökologische Nische und legen daher ein anderes Verhalten an den Tag, das ihren Bedürfnissen entspricht. Deshalb überrascht es nicht, dass sich auch das visuelle System von Mäusen auf andere Weise angepasst hat: Zum Beispiel können Mäuse Wellenlängen des Lichts sehen, die für das menschliche Auge unsichtbar sind, vor allem in ihrem oberen Gesichtsfeld. Allerdings werden diese Anpassungen bei der Untersuchung des visuellen Systems der Maus bis dato noch selten berücksichtigt.
Im Rahmen des von der DFG geförderten Sonderforschungsbereichs (SFB) „Robustes Sehen“ haben sich Forscher des Instituts für Augenheilkunde der Universität Tübingen und der Fakultät für Biologie der LMU München vorgenommen, diese Wissenslücke zu schließen. Um das Verständnis für das Sehen von Mäusen zu verbessern, haben Qiu und Kollegen eine neuartige Open-Source-Kamera gebaut, um die Welt aus der Perspektive der Maus zu „sehen“. In ihrer Studie, die kürzlich in Current Biology veröffentlicht wurde, nahmen sie mit ihrer Kamera Filme von Mäuselebensräumen auf und charakterisierten das aufgenommene Filmmaterial quantitativ. Sie fanden heraus, dass sich die Besonderheiten der visuellen Umgebung der Maus bereits auf Netzhautebene in neuronalen Spezialisierungen widerspiegeln.
Die visuellen Systeme von Tieren haben sich entwickelt, um den Strom von Bildern aus ihrer natürlichen Umgebung effizient zu verarbeiten und sie dabei zu unterstützen sich artgerecht zu verhalten. Ein prominentes Beispiel für eine solche Anpassung ist hier die Platzierung der Augen: Raubtiere haben typischerweise frontal angeordnete Augen, was das Tiefensehen in einem großen Teil ihres Gesichtsfeldes ermöglicht und damit das Jagdverhalten unterstützt. Im Gegensatz dazu haben Beutetiere oft seitlich angeordnete Augen, was ihr Sichtfeld maximiert – bei einigen Arten führt dies zu einer nahezu 360°Rundumsicht – und dadurch sicherstellt, dass sie ein Raubtier erkennen, egal von welcher Seite es sich nähert.
In den vergangenen Jahrzehnten haben sich Mäuse zu einem prominenten Tiermodell zur Untersuchung des Sehens entwickelt. Sie besitzen drei Typen von Photorezeptoren: Neben Stäbchenphotorezeptoren und mittelwellenlängenempfindlichen (M)-Zapfenphotorezeptoren – beide sind maximal empfindlich bei 510 nm (grün) – verfügen sie auch über einen kurzwellenlängenempfindlichen (S)-Zapfenphotorezeptor, der sein Maximum bei 360 nm Licht erreicht, was im, für uns unsichtbaren, UV-Bereich liegt. Anders als beim Menschen sind die beiden Zapfen-Photorezeptor-Typen ungleich über die Maus-Retina verteilt. Dies führt zu einer höheren Empfindlichkeit für UV im oberen Gesichtsfeld und einer höheren Empfindlichkeit für Grün im unteren Gesichtsfeld.
Schwarze Drohne (eingekreist) bei Dämmerung in den beiden Farbkanälen der Kamera – wie sie vermutlich von Mäusen gesehen wird.
Mit Blick auf diese Eigenschaften des Mäusesehens entwickelten die Teams von Prof. Thomas Euler (U Tübingen) und Prof. Laura Busse (LMU) ein Open-Source-Kamerasystem zur Aufnahme von Videoaufnahmen in jenen Spektralbereichen, die Mäuse sehen – UV und Grün – mit einem Sichtfeld von nahezu 180°. Solche Videoaufnahmen wurden in der Nähe von Mäusehabitaten, zu verschiedenen Tageszeiten, für verschiedene Jahreszeiten und Szenen durchgeführt. Dieses Filmmaterial ist für Forschungszwecke öffentlich zugänglich (https://doi.org/10.5281/zenodo.4812404).
Als nächstes analysierten die Autor:innen die Kontrastverteilung der beiden Farbkanäle für verschiedene Teile des Gesichtsfeldes. Die Analyse des aufgezeichneten Filmmaterials ergab, dass die chromatischen Signale im oberen im Vergleich zum unteren Gesichtsfeld deutlicher waren – ein charakteristisches Muster in der visuellen Umgebung von Mäusen. Um zu verstehen, ob dieses charakteristische Muster in der visuellen Szene ausreicht, um die Entstehung retinaler Spezialisierungen für die Verarbeitung von Farbe – also die oben erwähnte horizontale Aufteilung des Gesichtsfeldes – voranzutreiben, verwendeten die Autor:innen ein computergestütztes neuronales Netzwerkmodell. Tatsächlich entwickelte das künstliche Netzwerk, wenn es mit Bildern aus dem oberen Gesichtsfeld trainiert wurde, ein „Farbensehen“, wie es auch in der Mäusenetzhaut zu finden ist.
Warum also haben Mäuse diese Fähigkeit, UV-Licht zu sehen? Diese Frage ist faszinierend, zumal UV-Wellenlängen das Auge auf Dauer schädigen können, weshalb das meiste UV durch die Optik in unseren Augen herausgefiltert wird, bevor es die Netzhaut erreicht. Um zu testen, ob die UV-Sicht Mäusen helfen könnte, Raubtiere am Himmel zu erkennen, sammelten die Autoren auch in der Dämmerung Aufnahmen und simulierten einen herannahenden Raubvogel mittels einer schwarzen ferngesteuerten Drohne. Sie fanden heraus, dass die Drohne im UV viel leichter zu erkennen war als im grünen Kamerakanal, was darauf hindeutet, dass das UV-Sehen das Risiko für Mäuse verringern könnte, gefressen zu werden, wenn sie in der Dämmerung auf Nahrungssuche gehen.
Zusammen betrachtet unterstützt diese Studie die Ansicht, dass die Besonderheiten der natürlichen Umgebung das visuelle System während der Evolution geformt haben. Darüber hinaus unterstreichen die Ergebnisse die Notwendigkeit der Erforschung des Sehens im Kontext der Umgebung, in der sich die Tiere entwickelt haben.
>> Übersetzung der Original PM der Uni Tübingen.
Youtube Clip
Kamerafahrt durch die Lebenswelt der Maus.(Der UV-Kanal ist für den Betrachter in Blau visualisiert.) Quelle: Yongrong Qiu, Euler Group. Dauer: 0:10. zum Youtube Video
Publikation
Yongrong Qiu et al: Natural environment statistics in the upper and lower visual field are reflected in mouse retinal specializations. Current Biology 2021