Arbeitsteilung im Fliegengehirn
Das Erkennen von Bewegungen bedeutet für das Gehirn eine enorme Rechenleistung. Eine neue Studie aus Alexander Borsts Abteilung am Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz zeigt nun, wie das Fliegengehirn diese Aufgabe meistert: Indem es eine neuronale Berechnung auf drei Netzwerk-Ebenen durchführt, wird der Rechenaufwand auf mehrere Schritte verteilt. Damit entschlüsseln die Forschenden erstmals ein Netzwerk von Nervenzellen, bei dem ein Zelltyp die gleiche Berechnung auf allen Ebenen des Netzwerks ausführt. Durch diese Aufteilung kann die Fliege zuverlässig unterschiedliche Bewegungsmuster erkennen – die Voraussetzung, um nicht vom Weg abzukommen.
Beim Bewegungssehen werden bestimmte Nervenzellen von Bewegungen in eine Richtung aktiviert, von Bewegungen in die entgegengesetzte Richtung gehemmt. Die zugrunde liegende Berechnung wird im Fliegengehirn auf allen drei Netzwerk-Ebenen durchgeführt. Abbildung: MPI für biologische Intelligenz / Julia Kuhl
Beteiligte Bernstein Mitglieder: Etienne Serbe-Kamp
Fruchtfliegen sind Meister im Erkennen von Bewegungen und das müssen sie auch sein: Schon ein leichter Windstoß kann so eine kleine Fliege aus der Flugbahn werfen. Um Kurs zu halten, orientieren sich die Fliegen am optischen Fluss. Das sind die Bewegungsmuster, die auf der Netzhaut einer Fliege entstehen, wenn sie sich bewegt. Abhängig von der Bewegungsrichtung unterscheiden sich diese Muster und geben der Fliege Aufschluss darüber, ob sie geradeaus fliegt oder sich um eine bestimmte Achse gedreht hat.
Die Abteilung von Alexander Borst untersucht, wie das Bewegungssehen im Fliegengehirn auf der Ebene kleiner Schaltkreise funktioniert. Dabei spielt der ‚Bewegungs-Antagonismus‘ eine entscheidende Rolle. Bestimmte Nervenzellen werden von Bewegungen in eine Richtung aktiviert, von Bewegungen in die entgegengesetzte Richtung gehemmt. 2015 gelang den Forscher*innen dazu ein wissenschaftlicher Durchbruch: Sie entdeckten die zelluläre Grundlage für dieses Phänomen – die sogenannten LPi-Zellen.
Seitdem lässt sich das neuronale Netzwerk des Bewegungssehen in drei Ebenen unterteilen. Als erste richtungsselektiven Zellen analysieren T4/T5-Zellen (erste Ebene) einen kleinen Bildausschnitt. Sie geben ihre Informationen an LPi-Zellen (zweite Ebene) und Ausgangszellen (dritte Ebene) weiter. LPi-Zellen hemmen Ausgangszellen, die auf gegensätzliche Richtungen reagieren und sind somit für deren Bewegungs-Antagonismus verantwortlich. Dieser verhindert, dass Ausgangszellen durch unspezifische Signale aktiviert werden. Die Ausgangszellen bündeln die Signale vieler T4/T5-Zellen und erhalten so Informationen über einen großen Bildbereich. Ergeben ihre Berechnungen, dass die Fliege vom Weg abgekommen ist, wird eine Kurskorrektur eingeleitet.
Durch Zufall konnten die Forschenden dem Wissen über das Netzwerk neue Details hinzufügen. Georg Ammer, Erstautor der Studie, testete neues Elektrophysiologie-Equipment. Als ‚Testobjekte‘ entschied er sich für LPi-Zellen und war plötzlich mit völlig unerwarteten Messergebnissen konfrontiert. Um der Sache auf den Grund zu gehen, kombinierten der Neurobiologe und seine Kolleg*innen verschiedene experimentelle Methoden, einschließlich spannungs-abhängiger Farbstoffe und der Analyse von Konnektom-Datensätzen. Sie stellten fest, dass LPi-Zellen ihre hemmende Funktion auf allen Ebenen des Netzwerks ausüben. Sie inhibieren nicht nur Ausgangszellen mit gegensätzlicher Vorzugsrichtung, sondern auch T4/T5-Zellen und andere LPi-Zellen. „Dieses Ergebnis hat uns sehr überrascht“, berichtet Georg Ammer. „Wir kannten bis zu dem Zeitpunkt kein Netzwerk, bei dem die gleiche neuronale Berechnung auf jeder Ebene durchgeführt wird – und dann auch noch vom gleichen Zelltyp.“
Dabei wirkten die LPi-Zellen zunächst eher unscheinbar. Sie stellen innerhalb des Netzwerkes nur etwa 5-10% aller Synapsen. Elektrophysiologie-Experimente konnten jedoch zeigen, dass es diese hemmenden Synapsen in sich haben: Sie sind in etwa zehn- bis 20-mal stärker als aktivierende Synapsen und somit trotz ihrer Unterzahl in der Lage, ähnlich große Spannungsänderungen hervorzurufen.
Doch warum findet die gleiche Berechnung auf drei Stellen verteilt und nicht nur einmal am Ende statt? Was zunächst eher umständlich klingt, konnten die Forschenden unter anderem mit Computermodellen erklären. Indem lokale Störsignale bereits auf den ersten beiden Ebenen herausgefiltert werden, werden Ausgangszellen nicht mit Unwichtigem überladen und bleiben für relevante Informationen ansprechbar. So können sie selbst unter schwierigen Bedingungen Bewegungsmuster höchstsensitiv voneinander unterscheiden.
Die Hemmung zwischen zwei gegensätzlich geschalteten Kanälen, wie beim Bewegungs-Antagonismus, ist ein universeller Baustein neuronaler Netzwerke. „Es könnte gut sein, dass auch in anderen Spezies und verschiedensten Hirnregionen die gleiche Berechnung auf mehrere Ebenen verteilt wird, dieses Prinzip also auch dort große funktionelle Bedeutung hat“, erklärt Alexander Borst. Schwierige Arbeitsaufgaben in kleinere Häppchen aufzuteilen ist somit nicht nur in unserem Alltag eine hilfreiche Strategie – auch Nervenzellen profitieren von diesem Vorgehen.