Künstliche Neurone – Forschung als Medienkunst
Hermann Cuntz und Marvin Weigand vom Ernst Strüngmann-Institut for Neuroscience (ESI) und dem Frankfurt Institute of Advanced Studies (FIAS) haben am Centre Pompidou ausgestellt. Wie es dazu kam und um was es Ihnen geht erzählen sie im Interview.
Besucher der Vernissage im Centre Pompidou sahen sich 'Computational Cajal' von Hermann Cuntz und Marvin Weigand an. © Hermann Cuntz
/ESI/ Am ZKM oder am Centre Pompidou auszustellen – das ist für einen Künstler etwa so wie für einen Wissenschaftler in Nature oder Science zu veröffentlichen. Als Forscher seine Arbeit an einem der renommierten Museen zu zeigen, ist dagegen reichlich ungewöhnlich. Die ESI-Wissenschaftler Hermann Cuntz und Marvin Weigand tun es trotzdem. Am 26. Februar hat die Ausstellung „Neurons – simulated intelligence“ am Centre Pompidou in Paris eröffnet, unter den Kunstwerken ist auch eine Installation der beiden Hirnforscher.
ESI: Hermann, als Künstler in einem weltberühmten Kunstmuseum auszustellen ist schon großartig, als Forscher dort auszustellen toppt dies noch. Wie kam es dazu?
Hermann Cuntz: Es war eine ganze Kette von Ereignissen, die schlussendlich dazu führte, dass wir zu dieser Ausstellung im Centre Pompidou beigetragen haben. Angefangen hat es eigentlich schon 2011 damit, dass mein PostDoc Betreuer Michael Häuser eines der Bilder dieser künstlichen Nervenzellen für den Wellcome Image Awards-Wettbewerb eingereicht hat. Das Thema lautete “das schönste wissenschaftliche Bild des Jahres” oder so ähnlich. Wir haben den Preis tatsächlich gewonnen, und das Bild wurde in der Wellcome Collection in London ausgestellt. Dieses, aber auch andere unserer Bilder verbreiteten sich ziemlich gut im Internet, und das ist wahrscheinlich der Grund, warum Wissenschaftsjournalisten auf mich zukamen. Eines führte zum anderen: Jemand kannte jemanden, der jemanden kannte, und eines Tages kontaktierte mich das ZKM (Zentrum für Kunst und Medientechnologie) in Karlsruhe und ich machte eine Ausstellung für sie. Es war ein 360-Grad-Film in ihrem PanoramaLabor, der ihnen so gut gefiel, dass sie mich baten, etwas für eine Biennale zu machen, die das ZKM 2015 veranstaltete. Marvin hatte gerade seine Doktorarbeit mit mir begonnen und er kam auf die Idee, das Ganze in die virtuelle Realität zu übersetzen. Das machte das Ganze besonders cool und hat offenbar auch die Leute in der Kunstszene beeindruckt. Jedenfalls kannte der Kurator der Ausstellung im Centre Pompidou unsere Neuronen aus der Biennale des ZKM. Und in der Tat muss man sagen, dass unsere Visualisierung sehr gut zum Thema der Ausstellung passt.
ESI: Die Ausstellung am Centre Pompidou heißt „Neurons – simulated intelligence“ und soll so etwas wie ein Streifzug durch die Geschichte der künstlichen Intelligenz sein, und zwar aus einer künstlerischen Perspektive. Darunter sind aber auch ziemlich biologische Ausstellungsstücke – ein Gehirn in Formaldehyd zum Beispiel. Was erwartet einen, wenn man sich euer Stück ansieht?
Marvin Weigand: Im Prinzip die kortikalen Neurone, die von Hermanns Modell moduliert worden sind. Wenn der Besucher die VR-Brille aufsetzt, fliegt er quasi zwischen 150 Neuronen durch. Durch Bewegung des Kopfes kann man die Flugrichtung steuern. Gelegentlich feuert ein Neuron ein Aktionspotential – dann blitzt es auf. Das Ganze ist begleitet von einer ziemlich sphärischen Musik, die kapselt den Betrachter noch zusätzlich ab und vervollständigt dieses immersive Erlebnis, das man mit Virtueller Realität gerne erreichen möchte.
Ist es ein komisches Gefühl, als Wissenschaftler zu einer Kunstaustellung beizutragen? Denkt ihr, eure Arbeit hat tatsächlich einen künstlerischen Wert?
Hermann Cuntz: Ich denke, wenn wir es jetzt zum ZKM und zum Centre Pompidou geschafft haben, dann ist das Kunst. Das heißt, die Wissenschaft, die wir machen, gehört zur Kunst. Natürlich gibt es Künstler, die nichts mit Wissenschaft zu tun haben, aber wir sind da offensichtlich an einer Grenze oder eher einem Übergang zwischen Disziplinen. Kunst oder Wissenschaft, das kann man nicht mehr wirklich direkt unterscheiden.
ESI: Auch wenn ihr ausstellt und damit irgendwie auch Künstler seid, seid ihr ja eigentlich Wissenschaftler und macht Bilder und Videos als Teil eurer Forschung – welche wissenschaftliche Erkenntnis kann man denn mit euren künstlichen Neuronen gewinnen?
Dieses am Computer simulierte Bild zeigt synthetische pyramidenförmige Neuronen von optimierter Größe, Form und Konnektivität, die sich nicht von denen im echten biologischen Gehirn unterscheiden. Pyramidenzellen werden so genannt, da sie einen pyramidenförmigen Zellkörper (Soma) haben und sich auch durch lang verzweigte Dendriten auszeichnen. Sie kommen im Vorderhirn (Kortex und Hippocampus) von Säugetieren vor und man nimmt an, dass sie an kognitiven Funktionen beteiligt sind. http://www.wellcomeimageawards.org/2011/pyramidal-neurons
Marvin Weigand: Man kann nicht so direkt sagen: Das ist unsere Wissenschaft, die wir ausstellen. Die Visualisierung – diese künstlichen Neurone, die aussehen wie echte biologische Präparate – ist das Ergebnis von dem, was wir eigentlich erforschen. Uns interessieren die allgemeinen Regeln der Architektur des Nervensystems. Wenn wir glauben, wir haben eine mögliche Regel entdeckt, etwa wie Neurone ihre Dendriten wachsen lassen, dann stecken wir diese Regel in ein Modell, das vorhersagt: Wie würde denn ein Dendrit aussehen, der nach diesen Regeln wächst. Und je realistischer der künstliche Dendrit später aussieht, desto besser haben wir verstanden, welche allgemeine Regel dahinter steckt.
Hermann Cuntz: Die Pyramidenzellen, die wir im Centre Pompidou ausstellen, kommen aus einem Fachartikel, den ich vor ein paar Jahren publiziert habe. Darin habe ich Dendriten nicht nur von Pyramidenzellen, sondern von allen möglichen Neuronen aus vielen verschiedenen Spezies angeschaut. Das Paper heißt “One Rule to Grow Them All” und wir zeigen darin, dass eine Grundregel für das Wachstum von Dendriten ist, die Kabellänge möglichst gering und die Signalübertagung dementsprechend möglichst schnell zu halten. Also wenn man weiß, wo die anderen Zellen sind, von denen dieser Dendrit seine Eingänge holen muss, dann kann man mit unserem Modell ausrechnen, wie der optimale Dendrit aussehen müsste. Und dieselben Regeln kann man über verschiedene Spezies, über verschiedene Zelltypen anwenden. Und das funktioniert in allen Fällen, die wir ausprobiert haben.
Und eine der schönen Sachen an diesem Modell ist ja auch, dass es schon ganz von Anfang an den Turing-Test besteht insofern, dass man diese Zellen – die Visualisierung der Zelle – einem Experten geben kann und der kann nicht mehr unterscheiden: Ist das eine echte Zelle oder ist das eine künstliche Zelle. Tatsächlich ist es einmal passiert, dass bei uns am Institut ein Kollege einen Vortrag gehalten hat und in der Einleitung meinte: Natürlich wird es nie möglich sein, in einem Computermodell diese schöne Vielfalt von echten Nervenzellen zu reproduzieren. Und dann hat er mein Bild gezeigt von künstlich erstellten Zellen. Das ist für uns natürlich eine tolle Bestätigung dafür, dass wir etwas richtig gemacht haben. Natürlich reicht das als belastbare Evidenz nicht aus, aber es ist ein Hinweis.
ESI: Die Visualisierung der Neuronen ist also ein Test, ob Sie richtige Annahmen getroffen haben. Ist das VR-Element nur eine Spielerei, die Sie sich für das Kunstwerk ausgedacht haben, ohne praktischen wissenschaftlichen Nutzen?
Hermann Cuntz: Das würde ich nicht sagen. Marvins Implementierung in eine virtuelle Umgebung ermöglicht es Menschen, die mit ähnlichen Modellen oder Ansätzen arbeiten, die künstlichen Zellen immersiv in drei Dimensionen zu visualisieren. Und zwar nicht nur einzelne Neuronen an sich, sondern Zellen innerhalb eines Netzwerks. Je mehr Zellen man im Kontext betrachten möchte, desto schwieriger ist es, den Überblick zu behalten. Und wenn man die Konstellationen in der VR sozusagen räumlich erleben kann, hilft das auf jeden Fall, es besser zu verstehen. Marvin mag vor fünf Jahren der erste gewesen sein, der Neuronen in VR übersetzt hat, aber es gibt jetzt andere Gruppen, die das tun, weil sie einfach an die gleichen Grenzen der visuellen Wahrnehmung stoßen wie wir.
Marvin Weigand: Tatsächlich möchte ich die VR-Implementierung veröffentlichen, nicht unbedingt als wissenschaftliches Paper, sondern als Programm für eine Virtual-Reality-Brille – kostenlos zum Herunterladen für jedermann. Ich denke, es könnte eine ziemlich große Wirkung haben, weil es noch sehr neu ist. Unabhängig davon, ob es jetzt für die wissenschaftliche Arbeit relevant ist, könnten wir sicherlich auch Menschen erreichen, die nichts mit Forschung zu tun haben, und das Interesse an den Neurowissenschaften im Allgemeinen erhöhen. Gerade eben, als ich die Ausstellung im Centre Pompidou aufbaute, kam ein Sicherheitsbeamter auf mich zu und sagte, dass er im Allgemeinen nicht wirklich an moderner Kunst interessiert sei, aber dass er unser Werk sehr schön fände und mehr darüber wissen wolle.
Was steht als nächstes auf Ihrer Tagesordnung, Kunst oder Forschung?
Hermann Cuntz: Beides. Wir sprechen derzeit mit einem israelischen Künstlerpaar über ein neues, interaktives Projekt. Aber natürlich fließt der größte Teil unserer Zeit und Energie in die Forschung. Eines unserer nächsten Projekte besteht darin, Zelltypen nicht isoliert, sondern in einem Zellverbund zu untersuchen. Wir sind jetzt in der Lage, die Zellen nicht mehr allein im leeren Raum wachsen zu lassen, sondern auch zusammen in einem Stück Kortex zum Beispiel. Wir versuchen nun also, alle Zelltypen, die wir kennen, in einer Simulation zusammenwachsen zu lassen. Letzten Endes hoffen wir natürlich, dass wir in der Lage sein werden, elektronenmikroskopische Bilder aus echtem Gewebe zu simulieren. Das wird uns bei der weiteren Forschung helfen: Wir erwarten, dass unser Modell so aussieht – tut es das? Wenn nicht, müssen wir noch etwas ändern. Wenn ja, dann haben wir schon viel über die neuronale Architektur verstanden.