Gleichheit im Gehirn
Forschende entdecken Prinzip der dendritischen Konstanz
Die Forderung nach Gleichberechtigung betrifft auch einen der kleinsten Bausteine des Gehirns: die Dendriten.
Beteiligtes Bernstein Mitglied: Hermann Cuntz, Peter Jedlicka
/ESI, MPG/ Gleiche Rechte im Gehirn? Ein wissenschaftlicher Artikel zeigt, dass die Forderung nach Gleichberechtigung auch einen der kleinsten Bestandteile des Gehirns betrifft: die Dendriten. Das sind die Abschnitte der Nervenzellen, die Reize empfangen und weiterleiten.
Wir wissen, dass unterschiedlich geformte Neuronen Informationen unterschiedlich verarbeiten. Aber tragen die unterschiedlichen Formen andererseits auch dazu bei, dass ihre Funktionen ähnlicher werden? Hermann Cuntz, Forscher am Ernst Strüngmann Institut (ESI) für Neurowissenschaften, und Kolleg:innen berichten, dass Neuronen mit sehr unterschiedlichen Größen und Formen ihrer Fortsätze, den Dendriten, eine überraschende Gleichheit aufweisen. Die Forscher nannten dieses neue Prinzip dendritische Konstanz.
In den 1960er Jahren gelang es Wilfrid Rall, Gleichungen aus der Kabeltheorie auf Neuronen anzuwenden. Damit konnte er die Ausbreitung von Reizen in dendritischen Bäumen, den Eingangsstrukturen von Neuronen, berechnen. Bis dahin war der Beitrag der Dendriten zur Funktion der Neuronen weitgehend ignoriert worden. Rall konnte jedoch zeigen, dass sich elektrische Signale von einzelnen Inputs über die Dendriten hinweg dramatisch abschwächen und auf raffinierte Weise interagieren können – ein Wendepunkt für unser Verständnis neuronaler Informationsverarbeitung.
Ralls Kabeltheorie ist heute die Grundlage für alle detaillierten Modelle, die einzelne Neuronen oder ganze Schaltkreise im Gehirn darstellen. In der Zwischenzeit wurden verschiedene Zelltypen aufgrund der unterschiedlichen Form ihrer Dendriten mit einer Vielzahl von elektrophysiologischen Verhaltensweisen in Verbindung gebracht.
Reizantworten sind unabhängig von Dendritenform oder -größe
In ihrer kürzlich erschienenen Arbeit untersuchten Hermann Cuntz und seine Kolleginnen und Kollegen eine Eigenschaft der Kabeltheorie, die sich über verschiedene Dendritenarten hinweg verallgemeinern lässt: Anstatt die Auswirkungen einzelner Reize zu verfolgen, betrachteten die Autoren die synaptische Aktivität, wenn sie sich über den gesamten Dendriten verteilt oder über Teile davon. Interessanterweise neigt das Kabel dann dazu, auf einen einzigen Punkt zu kollabieren, wodurch die Reaktionen des Neurons unabhängig von der Form oder Größe des Dendriten sind.
Dies bedeutet, dass sich die Input-Output-Funktion von Neuronen praktisch nicht ändert, wenn Dendriten während der Hirnentwicklung massive strukturelle Veränderungen erfahren. Daher der Begriff “dendritische Konstanz” zur Bezeichnung dieses Phänomens. Die Konstanz der Dendriten könnte nicht nur während der Hirnentwicklung eine Rolle spielen, sondern auch im Zusammenhang mit neurologischen Erkrankungen von Bedeutung sein: Im Anfangsstadium einer solchen Erkrankung, bauen Neuronen, die noch gesund sind, ihre Dendriten um, um die Informationsverarbeitung im neuronalen Netzwerk so lange wie möglich aufrechtzuerhalten.
Die dendritische Konstanz ist also ein natürlicher Mechanismus, der teilweise den Schäden entgegenwirkt, die durch verschiedene Hirnerkrankungen wie Alzheimer oder Epilepsie verursacht werden. Infolgedessen kann die dendritische Konstanz dazu beitragen, das Auftreten von Krankheitssymptomen wie Gedächtnisverlust zu verzögern.
Beitrag zu 3R
Die vorliegende Arbeit basiert auf der Verwendung großer Datensätze. Dabei handelt es sich um eine Kooperation zwischen dem Cuntz-Lab am ESI, Thomas Deller vom Fachbereich Anatomie der Goethe-Universität in Frankfurt und der Gruppe von Peter Jedlicka am neu gegründeten 3R-Zentrum der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Im Einklang mit dem 3R-Prinzip des Tierschutzes (reduce, replace, refine), hat sich dieser Fall als ein Paradebeispiel dafür erwiesen, dass Computermodelle hervorragende Werkzeuge für die Nutzung gemeinsam genutzter experimenteller Datensätze sind. Denn dadurch konnte die Zahl der erforderlichen neuen Tierversuche verringert werden.
In gewisser Weise sind Neuronen also gleicher als man denkt. Wichtig ist jedoch, dass das Prinzip der dendritischen Konstanz nicht die Bedeutung synaptischer Lernregeln und lokaler Berechnungen in Dendriten schmälert, die Neuronen einzigartig machen und die Neurowissenschaftler sicher noch lange beschäftigen werden. Dennoch sind die Autoren der Meinung, dass die Erkenntnis, wie sich Dendriten über verschiedene Skalen hinweg gleich verhalten können, zu einem besseren Verständnis der allgemeinen Prinzipien neuronaler Funktionen beitragen wird.
Interessanterweise hat eine aktuelle Folgestudie gezeigt, dass die Normalisierung der synaptischen Eingangswerte auf der Grundlage des Mechanismus der dendritischen Konstanz die Lernleistung in künstlichen neuronalen Netzen verbessert. Somit könnte die dendritische Konstanz nicht nur für die Neurowissenschaften, sondern auch für die Gemeinschaft des maschinellen Lernens von Interesse sein.